Eine "atheistische Erziehung" existiert nicht. Atheismus ist kein Glaube, sondern definiert sich eben durch die Abwesenheit von jeglichem Glaube. Meine Eltern sind beide Atheisten/Agnostiker und ich kann mich an keine Gelegenheit erinnern, in der sie mir versucht hätten, einzuschärfen, bloss nie an einen Gott zu glauben. Es war einfach nie ein grosses Thema bei uns. Natürlich haben sie auch ab und zu Witze über Gläubige oder Religionen gerissen und mir ihre Einstellungen dann erklärt, wenn ich nachgefragt habe. Ich hatte aber nie das Gefühl, indoktriniert zu werden. Ich hatte nie das Gefühl, dass mir jemand ein Dogma eintrichtern will, für welches er/sie keine gute und logisch nachvollziehbare Argumentation parat gehabt hätte. Mein Vater versteht beispielsweise viel von Naturwissenschaften. Er hat mir demnach die Dinge dieser Welt eben nicht nach religiöser Manier, sondern wissenschaftlich korrekt (und natürlich etwas vereinfacht) erklärt. Angeblich sei ich immer ein extrem wissensdurstiges Kind gewesen. Und trotzdem hatte ich nie das Gefühl, dass mich meine Eltern einfach mit irgendwelchen abgelutschten Antworten abgespiesen hätten (was bei stark Gläubigen eben sehr schnell passiert).
Bei religiösen Menschen müssen wir unterscheiden zwischen den liberalen Gläubigen (~Landeskirche) und den Fundamentalisten (Freikirchen, Sekten etc.).
Bei liberalen Gläubigen werden den Kindern zwar Grundwerte der elterlichen Religion nahegebracht, es wird ihnen aber stets eine Wahl gelassen. Gerade diese ist extrem wichtig, um sich später selbständig und kritisch mit gewissen Themenbereichen auseinandersetzen und sich eine eigene Meinung bilden zu können. Deshalb bleiben auch sehr viele liberale Gläubige bei ihrem Glauben. Sie empfinden diesen nicht als Last oder Hindernis in ihrem Alltag. Heilige Bücher wie die Bibel oder der Koran gelten nicht als absolute und wortwörtliche Wahrheit, sondern eher als philosophische Schrift, in der es darum geht, zwischen den Zeilen zu lesen und sie zu interpretieren.
Ganz anders sieht das Bild bei Radikalen wie Freikirchlern und Sektierern aus. Sie lassen ihrem Nachwuchs in aller Regel eben KEINE Wahl und keinen eigenen Spielraum. Für sie geht es nicht darum, sich eine eigene, kritische Meinung zu bilden, sondern, dass die Kinder die elterlichen Meinungen eins zu eins übernehmen. Die Bibel oder der Koran gelten nicht bloss als Sammlungen von Ideen, sondern als in Stein gemeisselte Gesetze, die den Alltag bestimmen müssen. Ein typischer Freikirchler verzichtet lieber auf typisch humanistische Werte wie Menschlichkeit und Vernunft, als ein biblisches Gesetz nicht zu befolgen. Möge dieses auch noch so widersprüchlich, vorgestrig und daneben sein. Um die eigene, heilige Schrift, als auch um den eigenen Gott werden schon richtige Führerkulte entwickelt. Und tatsächlich hat religiöser Fundamentalismus durchaus etwas Faschistoides an sich. Er entsteht aus den selben, gesellschaftlichen Problemen heraus (schlechte Bildung, Frustration über die Welt, suche nach Sündenböcken (Andersgläubige)) und er baut auch auf den selben Prinzipien auf. Kein Widerspruch. Disziplin. Der Führer/die Bibel hat immer Recht. Wenn nötig muss man für ein höheres Ziel eben auch über Leichen gehen. In der Masse sind wir stark. Unsere Ideologie ist die einzig wahre. Unsere Ideologie sollte die Weltherrschaft erlangen. Und so weiter und so fort.
Durch diese religiös-faschistoide Haltung entsteht natürlich ein immenser Druck bei den Kindern solcher Familien. Auch wenn sie das nicht offen zugeben, innerlich leiden viele von ihnen sehr stark. Eine eigene Meinungsäusserung, geschweige denn eine eigene Meinungsbildung ist für sie unmöglich. Dadurch enstehen zwei typische Grundverhaltensmuster. Es gibt die einen Jugendlichen, die sich dagegen wehren und dagegen protestieren. Natürlich ist die System Kritik dabei ein langer Prozess. Anfangs geht es ihnen wahrscheinlich mehr um die persönlichen Freiheiten. Später aber auch durchaus um die Sache selbst. Sie erkennen dann plötzlich den Irrsinn der Dogmen, die man ihnen jahrelang eingetrichtert hat. Sich so aufzulehnen ist allerdings sehr gefährlich und führt für den Jugendlichen zu grossen Problemen. Im Islam kennen wir das ja z.B. von den Ehrenmorden. Die fundamentalistischen Christen gehen mit Andersgläubigen Kindern allerdings keineswegs zimperlicher um. Sie werden gegenüber ihren Geschwistern offen diskriminiert, manche Eltern entziehen ihren Kindern das Erbe, homosexuelle Jugendliche werden aus dem Haus gejagt und müssen fortan bei Kameraden wohnen (einem guten Freund so geschehen) - kam alles schon vor! Diese Jugendlichen werden sich in ihrem Erwachsenenleben sehr stark mit philosophischen Schriften auseinandersetzen. Und die meisten von ihnen werden schliesslich Atheist oder Agnostiker sein. Ein gutes Beispiel ist der Amerikaner Matt Dillahunty, der in einer christlichen Sekte aufgewachsen ist, von seinen Eltern zu einem Theologiestudium gezwungen wurde, dieses schliesslich abgebrochen hat und heute Moderator der Fernsehshow "The Atheist Experience" und einer der berühmtesten Atheisten der USA ist.
Gleichzeitig gibt es aber noch die andere Gruppe Kinder. Sie entscheiden sich in ihrer frühen Jugend, den Weg des geringsten Widerstandes zu gehen. Sie sagen sich: "so lange ich pariere und alles so sehe, wie meine Eltern und unsere Freikirche es uns vorschreibt, wird es mir gut gehen:" Ich kann diese Entscheidung durchaus verstehen. Denn schliesslich ist es wirklich ein grosser Druck, der auf ihnen lastet. Gleichzeitig ist es aber auch sehr schade, denn die allermeisten von ihnen werden später genauso radikal sein, wie ihre Eltern. Sie haben nämlich in ihrer Jugend dann genau das gelernt, was die Freikirchen ja auch predigen: Glauben, ohne zu Hinterfragen.
Was Kinder und Jugendliche mit atheistischen Eltern angeht, denke ich, dass die allermeisten von ihnen bei den Einstellungen ihrer Eltern bleiben werden. Und zwar ganz einfach aus dem Grund, dass atheistische Eltern ihren Kindern grundsätzlich eine Wahl- und Entfaltungsfreiheit zugestehen. Diese wird (zum Glück) auch von sehr vielen genutzt. Trotzdem merkt ein gut gebildeter Jugendlicher früher oder später halt einfach, dass die Wissenschaft und die eigene Vernunft auf eine Art argumentieren, die religiöse pseudo-Argumentationen wie naiven Kinderkram aussehen lassen.
@ Braller:
Vielen Dank. Ich fand deine Antwort ebenfalls sehr spannend. First-Hand-experience quasi ;-)
@ jay-c:
Ich finde deine Antwort interessant, in einem Punkt muss ich dich allerdings ganz klar korrigieren: Wenn du glaubst, Schöpfungslehre und Evolutionstheorie in den selben Topf werfen zu können, mangelt es dir an einem grundlegenden Wissen darum, was wissenschaftlich als "Theorie" bezeichnet wird. Eine WISSENSCHAFTLICHE Theorie hat nichts mit dem Wort "Theorie" zu tun, das wir im Alltag benutzen. Das wäre dann eher das wissenschaftliche Wort "These". Eine naturwissenschaftliche Theorie hat nichts mit einem Glauben zu tun. Sondern es ist ein Modell, das die Wirklichkeit so exakt wie nur möglich abbilden soll, auf unzähligen Beweisen beruht und ausserdem nur genau so lange wissenschaftlich akzeptiert wird, bis es nicht falsifiziert werden konnte. Genau das passierte bei der Evolutionstheorie seit nun über 150 Jahren (so lange gibt es sie schon) nicht. Die Gravitationstheorie von Newton nennt sich ja auch "nur" Theorie. Trotzdem würdest du ja kaum behaupten, dass reife Äpfel, die sich von Bäumen lösen, in den Himmel hinauf sausen, oder?