Daß es einfacher wäre, das AT aus der christlichen Bibel zu streichen, wage ich zu bezweifeln. Und selbst wenn es einfacher wäre, bliebe immer noch die Frage, ob es sachlich richtig wäre.
Zunächst einmal: so manche fragwürdigen Deutungen biblischer Begriffe in der späteren kirchlichen Dogmatik rücken sich gerade dann zurecht, wenn man bedenkt, was diese Begriffe im hebräisch-alttestamentlichen Denken und Sprachgebrauch bedeuten. Zum Beispiel der Begriff „Sohn Gottes,“ der im Alten Testament eine besondere Beziehung zu Gott, aber keine substantielle Wesensverwandtschaft bezeichnet. Oder der Geist Gottes, der im Alten Testament die Kraft und Lebendigkeit Gottes, nicht aber eine Person innerhalb eines dreieinigen Gottes meint. Oder die Tatsache, daß die Vorstellung einer jungfräulichen Geburt des Messias dem AT völlig unbekannt ist. In diesen und manchen anderen Punkten erweist sich das alttestamentlich-hebräische Denken bei näherem Hinsehen als erstaunlich modern - moderner jedenfalls als der Hellenismus, der auf die altkirchliche Dogmen-Entwicklung einen nicht unerheblichen Einfluß genommen hat.
Was die Schöpfungsgeschichten betrifft, so möchte ich sie gerade nicht den kurzschlüssigen Fehlinterpretationen fundamentalistischer Kreationisten überlassen. Die Schöpfungsgeschichten sind für mich eindrückliche Beispiele dafür, wie man zeitbedingte Vorstellungen und Weltbilder von bleibend gültigen Glaubensaussagen und Weltdeutungen unterscheiden kann und muß. In der Gott-Ebenbildlichkeit des Menschen (in 1.Mose 1,27 gleichermaßen ausdrücklich auf Männer und Frauen bezogen) liegen die geistesgeschichtlichen Wurzeln unserer heutigen Vorstellungen von Menschenwürde und Menschenrechten, in dem „macht Euch die Erde untertan“ (1.Mose 1,28) der Auftrag zu Forschung und schöpferischer Weltgestaltung, in dem „Bebauen und Bewahren“ (1.Mose 2,15) die Verantwortung der Menschen für die ihnen von Gott anvertraute Erde
Darüber hinaus gibt es viele alttestamentliche Texte, die ich unter keinen Umständen missen möchte:
Zum Beispiel die Berufung Abrahams, die zeigt, was Erwählung bedeutet: Segen erfahren und für andere zum Segen werden, kein exklusives Heil, von dem andere ausgeschlossen wären, sondern „durch Dich sollen alle Völker auf Erden gesegnet werden“ (1.Mose 12,1-3) - eine wichtige Aussage auch für die christliche Kirche, deren Berufung darin besteht, „Kirche für andere“ zu sein (Dietrich Bonhoeffer).
Zum Beispiel die Geschichte von der Befreiung aus der ägyptischen Sklaverei in ihrem ursprünglichen Kernbestand (zu dem der Machtkampf zwischen Mose und dem Pharao bis hin zum Massenmord an den ägyptischen Erstgeborenen NICHT gehörte, sondern in dem von einer Flucht aus Ägypten die Rede war, die in 2.Mose 14,5 noch erkennbar ist); daß Gott aus Unterdrückung und entwürdigender Abhängigkeit befreit, ist auch für den christlichen Glauben eine zentrale Aussage von bleibender Bedeutung.
Zum Beispiel die zahlreichen Schutzbestimmungen für die Armen und Schwachen einschließlich der Fremden und der Sklaven (ob sie in der Praxis immer befolgt wurden, ist eine andere Frage).
Zum Beispiel die prophetische Kritik an der Selbstherrlichkeit der Herrschenden, an sozialem Unrecht, an der Bestechlichkeit der Richter, an der Heuchelei von Leuten, die im Tempel pompöse Gottesdienste feiern und im Alltag die Armen ausbeuten und um ihr Recht betrügen.
Zum Beispiel die großartigen prophetischen Visionen von einer Welt des Friedens, der Gerechtigkeit, des Heils und der Lebensfülle. Verheißungen, die nicht auf Israel beschränkt sind: „Es ist zu wenig, daß Du die Stämme Jakobs aufrichtest und die Zerstreuten Israels wieder zusammenführst, sondern ich habe Dich zum Licht der Heiden gemacht, daß Du mein Heil bis an die Enden der Erde seiest“ (Jesaja 49,6).
Zum Beispiel die vielen Texte, in denen auch schon im Alten Testament mit eindrücklichen Worten von Gottes Langmut und Barmherzigkeit und von der Vergebung die Rede ist.
Aber es gibt natürlich auch die anderen Texte, die wir aus heutiger christlicher Sicht als fragwürdig bzw. nicht mehr gültig bewerten müssen: Texte, in denen Gott für Krieg und Völkermord in Anspruch genommen wird, in denen militärische Siege oder Niederlagen oder Naturkatastrophen als Gottesurteile gedeutet werden, Gesetze, die für eine Vielzahl von Vergehen drakonische Strafen vorsehen, oder kultische Vorstellungen von Sühneopfern, die von einer Übertragbarkeit moralischer und religiöser Schuld ausgehen.
Von Gott ist in der Bibel im Spiegel menschlicher Erfahrungen mit ihm die Rede. In dem langen Zeitraum, den gerade das AT abdeckt, werden die Wege deutlich, die die Menschen dabei gegangen sind, die Wandlungen, die ihre Gottesvorstellungen dabei durchgemacht haben, und auch so manche Fehlentwicklungen und grauenhaften Irrtümer, die natürlich posthum als solche erkannt und benannt werden müssen; gerade darum aber ist es wichtig, daß sie in der Bibel dokumentiert sind - sie einfach herauszustreichen hielte ich meinerseits für zu einfach.
Die Alternative, das AT entweder pauschal zu verwerfen oder ebenso pauschal in einem wörtlichen Sinne für wahr zu halten, ist also falsch. Es geht vielmehr um eine differenzierte und kritische Aneignung. Das gilt übrigens auch für das NT (markantes Beispiel: die Tendenz der Evangelien, alle Schuld am Tod Jesu den Juden zuzuschieben und Pilatus so weit wie möglich zu entlasten). Der Maßstab für diese differenzierte Bewertung und Aneignung des AT ist aus christlicher Sicht natürlich Jesus, der aus der jüdischen Glaubensgeschichte im doppelten Sinne dieses Wortes herausgewachsen ist, indem er einerseits in ihr verwurzelt war, sie aber zugleich revolutionär neu interpretiert und weiterentwickelt und in letzter Konsequenz universal ausgeweitet hat (auch wenn er selber während seines Wirkens in Galiläa die Grenzen zu den Heiden nur punktuell überschritten hat).
Was übrigens die Kreuzigung Jesu betrifft: sie ist in der Tat nirgendwo im AT vorhergesagt. Es handelt sich hier vielmehr um eine rückblickende Deutung der Urchristenheit, die Jesajas Lieder vom leidenden Gottesknecht auf Jesus bezogen und dabei den Gottesknecht mit dem Messias identifiziert hat. Im jüdischen Glauben hatten beide nichts miteinander zu tun und war die Vorstellung von einem leidenden und sterbenden Messias unbekannt.